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Freitag, 17. Juli 2015

Fleisch, Frust, Friede










Rumänien ist die Hölle. Rumänien ist wie die Hölle.




Viel abwechslungsreicher als der Himmel. Nicht brav. Nicht korrekt. Schon gar nicht politically correct. Es gibt zwar auch hier Nature Joghurt. Aber dieses wird mit Salz und viel Knoblauch gegessen. Es muss brennen. Und auch Beeren gibt es im Wald. Und Bären. Wer etwas gilt, kann eine Narbe zeigen, von einer Bärentatze stammend. „Schau, hier, urs!“ Und Him- und Brom- und Heidelbeeren. Von Kinderhand gepflückt und an der Strasse für zu wenig Geld angeboten. Und Pilze, sobald es geregnet hat. Das Geschäft der alten Männer. Am Strassenrand kauern und auf Radhöhe der vorbeidonnernden Lastwagen einen fetten Steinpilz hoch halten. Die Wälder geben es her. Alles. Und die Strasse frisst`s. Auch die jungen, bunten Frauen, oft sehr hübsch, die sich am Beginn des Feldweges im Schatten eines Baumes oder halt auf einem Kilometerstein in der heissen Sonne sitzend anbieten. Die Verrichtungsbox ist der Wald. Rumänien ist ein grosser Wald. Wieviele km2 der Fläche Rumäniens sind Wald? Google weiss es. Oft dichter, unzugänglicher Wald. Holzvorkommen um 500 kommunistische Winter zu überstehen. „Lemn“ – Holz. Geschlagen wird es nach Sonnenuntergang. Und gleich abtransportiert. „Furat“ – gestohlen. Niemand schreitet ein, obwohl man die Motorsägen weitherum hört und es nach Sonnenuntergang noch lange nicht dunkel ist. Die Gesetze greifen halt nicht, erklärt mir ein Polizist, warum soll ich da etwas tun? Muss er ja auch nicht. Wir sind in der Hölle. In der guten Hölle, wo es genug hat für alle. Keine geltenden Gesetze. Das Gesetz ist die Realität. Ein riesiges Fest, der Tisch ist reichlich gedeckt, auch mit viel Selbstgebranntem (die Prozente gelten als Qualitätsmass), und dauernd wird nachgereicht. Und geraucht und geredet und gelacht und gegrölt und viel geklagt. Über die Regierung und die Korruption (diese zwei Wörter sind austauschbar) und über den Nachbarn. Niemandem kann man trauen. Nicht mal sich selbst. Das kleine, dürre Grossmütterchen, bald 90, das immer das Gleiche sagt und die runzligen Hände faltend und „Dumnezeu“ murmelnd zum Himmel schaut – der Herrgott sieht`s und wird`s auch richten – sei – ich glaube es kaum – mal für drei Jahre im Gefängnis gesessen wegen Holz- und anderem Klau von nicht zu stark Angewurzeltem. Von hinter dem Vorhang seines wackligen Kommödchen klaubt es ein Fläschchen hervor und sagt „Norok“ – Prost!
Ein Enkel des Grossmütterchens ist zum zweiten Mal jung verheiratet. Die zweite Frau war immerhin schon 18 am Hochzeitsfest. Und schwanger. Besonders ist, dass sich die zwei nach sechs Jahren immer noch lieben. Und sich in die Arme nehmen. Oder Händchen halten, wenn sie zum Bäcker gehen um sich das Brot für 1 Leu (20 Cent) anschreiben zu lassen. Und beide sind gute Eltern und Anca ein fröhliches Mädchen. Sie leben in ihrem dürftig selbstgebauten Haus mit einigen wertlosen Aren Wiesenland darum. Aber sie haben keine Arbeitsstelle. Das ist Ziel von allen. Arbeit ist gleich „bani“ (Geld), wenn auch zu wenig, ist gleich wenigstens mal wieder eine der aufgelaufenen Stromrechnungen bezahlen oder ein Päckli Pommes chips kaufen, um der Volkssucht Nummer eins zu frönen. Pommes chips als Statussymbol der zu kurz Kommenden, die Wohlstandsdroge derjenigen, die nur ein paar Groschen in der Tasche haben, der Ernährungsfeind Nummer eins, raumgreifend präsentiert in jedem kleinen „Magazin Mixt“-Laden, die Kartoffeln in der Form, dass sie nur für Geld und in ungesunder Form zu haben sind. John Lennon hat mal gesungen: „A working class hero is something to be“. Heute singen seine Nachkommen aus der Tristesse: „A packet of crisps is something to have“.
Fleisch ist auch etwas Gutes. Alles andere ist Beilage. Am liebsten Schweinisches. Ohne Weihnachtsschwein, im Sommer gekauft und in einem jämmerlichen Verschlag hinter dem Haus fettgemacht, ist man ein Versager unter den Habenichtsen. Dafür wird auch alles verwertet. Nicht nur hinter dem Haus. In Restaurants stehen Schweinsmagensuppe und Schweinshirn auf der Menukarte. (Wann bietet dies der erste Gault-Millau-Koch in Westeuropa an? Die chicken Gourmet-Schnüffler werden merken, dass das ewige Filet-Lutschen langweilig geworden ist. Ein Sauschwänzchen wäre doch etwas anderes, Erlebnisgastronomie mit entsprechendem Preis.)
Peter und ich sind zu Gast beim Enkel, seiner Frau und dem Töchterchen. Das Grossmütterchen schlurft auch herein. Es hat nicht genug Stühle für alle. Wir haben Bier mitgebracht. Und Kaffee und Limonade. Und Milch vom Lidl fürs Mädchen. Der Schnaps kommt von selbst. Es wird viel und laut gelacht und geredet. Und gejammert (über Krankheiten, teure Medikamente, fehlendes Geld, den Riss im Dach, die zerbrochene Fensterscheibe und dass keiner der angeschleppten Fernseher funktioniere). In den nächsten Tagen entwickeln wir mit ihnen zusammen ein Projekt. Anschubhilfe. Vorhanden sind die wertlose (!) Wiese, zwei arbeitsfähige Menschen und ein hervorragendes Klima. Die Hälfte der Fläche wird ein Garten, in der andern Hälfte werden Schweine und Hühner gehalten. Benötigt werden Holz für einen Zaun, Holz und Dachplatten für einen einfachen Stall, Futter und für den Garten Saatgut. Peter ist Fachmann für Landwirtschaft und Holzbau. Alles wird genau geplant und berechnet. Und vor allem erklärt. Wie, warum so, was für Schweine. Wir werden verstanden. Eingekauft und ausgeführt wird schrittweise. Erst das Holz. Wir sind dabei, und wir bezahlen. Am nächsten Tag stehen Stall und Zaun, so wie besprochen. Dann auf den Hühnermarkt. Zehn junge und zehn ausgewachsene Hühner plus Futter. Nebenan Dinge für den Garten. Wir bezahlen. Anca freut sich und steht lachend mit einer Limonade hinter dem Chevi, auf dem mal kein Wohnwagen angekoppelt ist, sondern der mit zwei grossen Schachteln voller Hühner beladen ist. Die nächste Fahrt führt zum Schweinemarkt. Wieviele Schweine bringt man auf einen Chevi? Zwei jüngere (etwa 25 kg) und zwei grössere (etwa 40 kg) sind vorgesehen. Aber es gibt keine an diesem Tag, der Tiermarkt sei nur am Wochenende. Peter und ich möchten aber nach dieser heissen und intensiven Woche weiter in die Berge. Also entscheiden wir: Wir halten alles schriftlich fest, die Hälfte des Geldes ist geschenkt, die andere Hälfte ist ein zinsloses Darlehen, alles genau aufgelistet. Wir geben ihnen das Geld für die Schweine, für Futter und fürs restliche Saatgut. Es wird klappen, auch darum, weil sie wissen, dass sie mehr Geld kriegen werden, wenn alles eingehalten und das Projekt erfolgreich weitergeführt wird. Im andern Fall wären wir alle Verlierer.
Alles klar, ein herzlicher Abschied, wir schalten die Klimaanlage ein und rauschen den kühleren Bergen entgegen. Rumänien ist wunderschön. Flüsse, Bäche, Hügel, Berge, Wiesen und Wald. Kilometerlang fährt man auf Nebenstrassen durch schönste, oft kaum berührte Landschaften, und überall kann man sich hinstellen. Vorbeigehende freuen sich mit über unsere Plätze, winken oder kommen heran. Einmal bedeutet uns ein Kuhhirt anzuhalten, als wir langsam herantuckern und schlägt uns vor, unter den Bäumen neben dem Bächlein auf seiner Weide zu campieren. Und die Luft sei drum so gut hier. Wir tun ihm den Gefallen gerne. Oh liebes, stilles, schönes und idyllisches Rumänien! Du bist das Paradies in der Hölle!
Der frischgebackene Schweinezüchter aus dem Süden schickt ein SMS und meldet glücklich den Kauf von drei Schweinen. Er hat eine teure, trächtige Sau gekauft, dazu zwei kleine, für vier habe es so nicht gereicht, und das Geld für das Futter sei auch mit aufgebraucht. Ob wir welches dafür überweisen könnten via Western Union... Ich schrieb zurück: „Tu esti un idiot!“ Dann schaltete ich mein Telephon aus.
Aufruf an die geschätzten Leserinnen und Leser: Macht es euch nicht zu einfach mit eurem Urteil vom Himmel aus!