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Donnerstag, 23. Juli 2015

Munti si minti










Das heisst Berge und Lügen.




Da wären wir wieder beim Thema: Wie schön Rumänien ist. Und wie frei. Beides betonen die Rumänen immer wieder. Sie haben recht. Die Wahl eines Übernachtungsplatzes zieht sich oft hin, weil man weiss, dass später oder weiter hinten noch paradiesischere Plätze kommen. Nicht nur, weil die Landschaften abwechslungsreich und meist wunderschön sind, sondern auch, weil sie viel grösser und weiter sind, hat man nie ein Problem, sich irgendwo hinzustellen. Und auch, weil niemand argwöhnisch ist. „Dies ist Privatboden, hier dürfen Sie nicht bleiben!“, dies habe ich auf meinen bisherigen Rumänien-Reisen mit geschätzten über hundert Übernachtungsplätzen ein einziges Mal erlebt. Dafür kam es damals gleich so daher, als hätte ich dem Proprietar (wohl ein Möchtegern-Emporkömmling aus dem fernen Bukarest) auf die Füsse geschissen. Eben: da geht es dann mehr um Hirn- und Darmwindungen. Kenne ich das nicht aus der Schweiz? – Aber in RO ist man wirklich „liber“.





 
Liber ist auch der Zirkus, „mein“ Zirkus, der auf dem Weg nach Nordrumänien besucht werden muss. Das letzte Mal habe ich die Zirkusleute im März in ihrem Winterlager gesehen. Inzwischen haben sie ein gutes Programm auf die Beine gestellt. Mit international tätigen Elefanten, Kamelen, Akrobaten und Clowns. Nur: Es kommen zu wenig Besucher, obwohl der Eintrittspreis sehr niedrig ist. Nach jeder Vorstellung werden die Einnahmen gezählt
und die bescheidenen Anteile ausbezahlt. Wie schafft es zum Beispiel die Elefanten- und Kameldompteuse mit ihren guten Nummern, aber zehn Tieren und drei neuen Sattelschleppern über die Runden zu kommen? In Norwegen sei es besser gewesen, aber die Konkurrenz sei gross. So geht es auch den Musikclowns, die von ihren Auftritten in Steckborn und Frauenfeld erzählen und dem international bekannten Handstandakrobaten, dessen glitzernde Schweisstropfen unter den Scheinwerfern des heissen Zirkuszeltes wie special effects wirken. Klarer sind die Einnahmen und Ausgaben der Arbeiter. Der eine braucht das Kleingeld für Bier, der andere für Schnaps, der dritte spart, bis es ihm geklaut wird, und rauchen tun sie alle. Der Alkohol und die brütende Hitze bestimmen den Tag bis zu den Vorstellungen. Die 5-Uhr-Show wird abgesagt, weil es für die Tiere (!) zu heiss sei. Nebendran wäre übrigens das öffentliche Schwimmbad. Nur ist es am Zerfallen...


Also wird herumgehängt. Den Kamelen scheint es wohl zu sein dabei. Die Clownin richtet die Satellitenschüssel. Die Elefanten lassen ihre Köpfe im Rhythmus des Nichts hin und her pendeln und ihre Rüssel tun, was sie können, nämlich herabhängen. Eines der gelangweilten Ponies versucht dies ihnen gleichzutun.








Die 8-Uhr-Vorstellung findet statt. Es ist drei Grad „kühler“. Frau Clown verlässt die Fernsehsendung auf die Minute für ihren Auftritt. Die Python-Frau raucht hinter dem Vorhang mit einer Schlange über den Schultern die letzte Zigarette. Mister Clown wartet nach 40 Jahren Berufsausübung ohne ersichtlichen Kitzel unter dem Vorzelt seines Wohnwagens. Und der Americano, der sanftmütige Unterhund, dem seine Mutter als Säugling den Kiefer kapputt geschlagen hat, küsst eines „seiner“ Tiere auf den Mund, weil er spürt, dass diese seine Liebe erwidern.







Alle Menschen haben ihre Geschichte. Klar. Ich auch. Meine ist etwas allzu katholisch. Der Befreiungsschlag erfolgte ratenweise über viele Jahre. Aber das war peanuts im Vergleich zu vielen rumänischen Lebensgeschichten. An Stelle von Moral und geltenden Gesetzen (irgend etwas Solches müsste es doch schon geben) herrschte „free-style-survival“. Friss oder stirb. Die Mutter hält dem Säugling die Brust hin, ohne Gefühl, trinkt lieber Alkohol, und wenn der Balg dann immer noch schreit, lernt er die Härte und die Leere seiner Zukunft kennen. Was wird er später tun? Wenn ihm sein Inneres, wie beim Americano, noch zugänglich ist, wird er von Gott reden (vom Guten, das Lichtjahre entfernt ist) und die tristen Tage hienieden mit Bier verflüssigen. Und er wird einen Grundsatz hochhalten, der ihn von Andern unterscheidet: Er klaut und betrügt nicht. Eine Frage, die ich mir oft stelle: Würde ich dies auch schaffen, wenn ich in diese Welt des Nichts-Habens, Nichts-Seins, der Kälte und Schläge hineingeboren worden wäre? Und wie reagiere ich jetzt – jetzt in diesem Moment – nachdem ich gerade festgestellt habe, dass der Stromgenerator, den ich Gott vertrauend in diesem entlegenen Gebiet über Nacht nicht eingeschlossen habe, weg ist. „Furat“ – gestohlen. Ich bin nicht wütend. Ich denke an den guten Jungen, der gestern nach dem Melken nochmals vorbeikam, um uns eine Fanta-Flasche frischer Milch zu schenken. Und an die Familie, die anhielt, um uns zwei Kilos ihres frisch gewonnenen Honigs zu geben. Dazu die Frage: Wie halten wir es in der Schweiz mit den rumänischen „Touristen“?
Es gibt, zahlenmässig gut vertreten, den Dorftrottel. Mit und ohne Alkohol-Anbindung. Er hat einen schlendernden oder hinkenden Gang, legt wenig Wert auf seine Kleidung, hat vielleicht eine Plastiktüte oder eine Hacke dabei und ist an Kommunikation entweder nicht oder überinteressiert. Im zweiten Fall kann ein Gespräch sehr reich an inputs sein, da man sich nicht sicher ist, ob es um Nylon-Fetischismus, Hüftschmerzen oder andere Sehnsüchte geht. Der rote Faden in der lebensphilosophischen Unterhaltung ist jedoch ER, Dumnezeu, der Herrgott, ohne dessen Beistand alles wirklich nicht mehr zu ertragen wäre. „Doamne ajute“ – Gott helfe – hängt sich elegant und selbstverständlich an jede Aussage an.


Dann gibt es das Weib, die junge Frau, die mit 18 das erste Mal geschwängert wird, meist stolz darauf, damals, als es geschah, denn sie wurde so zum Vollmitglied auf der Lebensbühne. Inzwischen ist die Anzahl der Kinder, mit knapp bemessenen Abständen, auf fünf angewachsen. Die Bühne ist jetzt der Platz vor der Dorfkneipe, wo die Kinder freilaufmässig zwischen den Plastik-Tischen und -Stühlen gehalten und mit Zucker und Pommes Chips ruhig gestellt werden. Der Mann ist „plecat“ – weg – im besseren Fall unterbezahlt in Spanien auf den Erntefeldern, im schlechteren Fall „Nu stiu“ – ich weiss es nicht. Diese Frau ist noch jung und hat noch fast alle Zähne. Und eine unkomplizierte Libido. Und kein Geld. Da muss sich Frau halt etwas einfallen lassen. Der fremde Reisende kann dann in der brütenden Hitze des abgelegenen Dorfes zum Ziel günstiger Angebote werden. Die Grossmutter würde gerne mal kurz den Babysitter spielen.


Für die Frauen über 30 ist die Situation schon etwas anders. Ionela sitzt mit ihrer Mutter in der weiten Landschaft unter einem Baum. Ein idyllisches Bild. Sie hütet die Kühe des ganzen Dorfes. Sie trägt zerschlissene Jeans, ein silberbesticktes T-shirt und Reinschlüpfschuhe mit halbhohen Absätzen. Die rosarote Farbe an den Fussnägeln ist am Abbröckeln. Sie kommt heran und bittet um Wasser. Sie kriegt Kaffee, Brot und Wurst. Hunger und kein Geld, sagt sie. Und fünf Kinder. Und kein Mann mehr. „A murit“ – er ist gestorben. So jung? Vor drei Monaten sei er niedergeschlagen worden. Und der Täter? Der laufe immer noch frei im Dorf herum. Und die Polizei? Der habe er wohl Geld gegeben. Ionela schaut nachdenklich zu Boden. „Da lässt sich nichts machen. Das Leben geht weiter.“ Und schon setzt sie wieder ihr schönes, leichtes und nur ganz leicht gequältes Lächeln auf. Bevor sie weggeht, kommt sie, die Frage: Ob wir ihr Geld geben könnten? – Warten wir mal bis zum Sonnenaufgang. Vorerst zieht mich nicht nur der Wunsch nach einem kalten Bier hinunter ins Dorf. Ich möchte Sozial-Detektiv spielen. An einem klebrigen Plastiktischchen der Dorfbeiz ist der Fall in drei Minuten klar: Eine Lügengeschichte! Macht sie mich sauer?


Am nächsten Tag treffe ich auf einen andern Menschen. Von der Spezies der ehrlich und fleissig arbeitenden. Petru ist der Mechaniker und Schweisser des Dorfes. Seine Arbeit ist besser als es seine Werkstatthütte vermuten liesse. Mein Problem löst er souverän und will erst gar kein Geld dafür annehmen. Die Konversation ist interessant und informativ. Er schaut dabei geradeaus, weder nach unten, noch nach oben. Das „Doamne ajute“ gehört nicht zu seinem Wortschatz. „Gottlob“, denke ich. – Spät abends knattert ein Motorradlicht auf den Wohnwagen zu. Es ist Petru, der die zwei neuen Weide-Bewohner besuchen kommt. Das Gespräch mit ihm ist wie der Palinca, den er mitgebracht hat: Es geht um Geschmack, nicht um Prozente.


Die ultimative Begegnung, die Begegnung der Dritten Art, erfolgt am Waldesrand. Ich habe ihn schon oft gesehen, sehr oft, und bisher immer an ihm vorbei geschaut. Jetzt beachte ich ihn. Wegen seiner Tatoos. Die leichte, sommerliche Bekleidung macht sie alle sichtbar. Es sind alte Tatoos, nicht die der gestylten Art von „jedem Depp sein Tatoo“. Er ist ein echter Freak. Und ruhig. Kein Prahler. Er hat zwar auch diesen Blick zu Boden, aber er scheint Weisheit und nicht Feigheit auszudrücken. Man glaubt fast, ein Licht um seinen Kopf herum leuchten zu sehen. Ein Gespräch ist gar nicht nötig. Man spürt und versteht sich ohne. Darum muss man auch nicht lange verweilen, nicht mal ein Schlücklein Palinca trinken zusammen. Ein angedeutetes, fast konspiratives Nicken genügt. Habe ich beim Weggehen doch noch etwas Kurzes von ihm gehört? Hat er ganz leise „Doamne ajute“ gesagt?