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Freitag, 19. Juni 2015

Bei Väterchen








Väterchen kam aus Gori, einer mittelgrossen Stadt westlich von Tbilisi.






Daher haben die Menschen von Gori ein zwiespältiges oder doch eher eindeutiges Verhältnis zu Väterchen: Sie verehren es, das Söhnchen von Gori. Sie haben ihm ein Museum gewidmet, im Zentrum, an der Hauptstrasse, welche Stalin Avenue heisst. 
Mit Eintrittsbillet. Eintritt fürs Museum 10 Lari, mit Besichtigung seines Eisenbahnwagens 15 Lari. Sein rekonstruiertes Geburtshäuschen, vor dem Museum unter eine protzig-würdige Säulenhalle gestellt, wird nur bei einer Führung geöffnet. (Hier schlief Väterchen, als es ein Knäblein war.) Vor dem Museums-Eingang steht das Knäblein im besten Mannesalter in übergrossen, schweren, weissen Stein gemeisselt, in Siebentonnen-Stiefeln, mit baumstämmigen Oberschenkeln, Klassenkampf-Kutte und dem Schnauz zum Berge versetzen.



Was zeigt das Museum? – Tausend Photos, Gemälde und Gewobenes des Verehrten, Väterchen allein oder Väterchen als Knabe mit Mütterchen, und Väterchen mit Churchill oder mit Schulkindern oder und. Dazu jeglicher Ramsch, wie er von mir nie ausgestellt werden wird, weil ich nie so vielen Menschen den Weg gezeigt haben werde – die Lieblings-Teetasse, der Brieföffner, das Telephon, die Freizeit-Pantoffeln, das  Ferienhaus-Klavier (wer hat ihm zur Beruhigung darauf vorgespielt?) das Nachttischen, das Nachttöpfchen... Darauf sass Väterchen, daraus frass Väterchen, damit vergass Väterchen. Schon fast als belebende Auflockerung, als live act, wirkt das Aufsichtspersonal, Frauen, die den Arbeitstag auf ihren einsamen Stühlen mit Dösen oder mit Aufs-Handy-schauen zu beschleunigen versuchen. Manchmal bewegt sich eine ganz kurz, ändert den Sitzwinkel oder hebt den Kopf. Wie denken sie wohl über ihren hundertfach auf sie herabschauenden Arbeitgeber? Haben sie Gefühle für ihn? Schwärmen sie heimlich von der imposanten Gestalt? Wissen das ihre Ehemänner zu Hause?





Hätte ich meinen Besuch von Anfang an auf den Museums-Shop beschränken sollen? Hier gibt es alles auf zehn Quadratmetern konzentriert: Stalin-Feuerzeuge, Stalin-T-shirts, Stalin-Ansteckknöpfe, Stalin-Armbanduhren, Stalin-Tabakpfeifen, Stalin-Kaffeetassen, Stalin-Kugelschreiber usw. Was es nicht gibt, sind Stalin-WC-Papier und Informationen über Stalin.
Am Ausgang liegt mit ausgestreckten Beinen ein Hund, flach, faul und ergeben wie nur Hunde liegen. Stalins Hund – ohne Beschriftungsschildchen.


Wenn  Väterchen wüsste, womit sich seine Stadt heute beschäftigt. Die Dichte der Coiffeur- und Beauty-Salons ist auffallend, ob es sich um kleine Hintertür-Koben oder um gestylte Glas-Pavillons handelt. Warum haben gewisse Städte von bestimmten Dingen gar keine oder sehr viele? Warum hat es in der einen Stadt keine Restaurants und in der andern alle Arten von Restaurants? Und so weiter. Jedenfalls ist der Schönheitskampf der moderne Klassenkampf von Gori. Dem wäre höchstens noch anzufügen, dass Väterchen als junger Mann ein echter südländischer Schönling gewesen ist. So schliesst sich der Kreis irgendwie doch.






Was alle Städte gemeinsam haben, auf der Welt und in Georgien, sind die vielen Autos. Ich unterscheide drei Kategorien. Kategorie 1: die alten russischen Klapperkisten (20%) – jämmerlich, exotisch oder altehrwürdig. Kategorie 2: die 10- bis 30-jährigen Gebrauchtwagen vor allem aus Deutschland (60%) – Mercedes ist beliebt, bei vielen fehlt die Schnauze, sieht cool aus. Kategorie 3: die teuren Luxuswagen aus dem Westen (20%) – Finanzierung unklar, denn nicht immer sitzen Neureiche drin. Was für ein Auto würde Väterchen heute fahren? Einen Lada, einen Mercedes mit oder ohne Schnauze oder einen Hummer? Oder würde es sagen, ich habe ja meinen Eisenbahnwagen?



Von Gori aus fahren wir westwärts und finden in der Nähe von Kutaisi einen speziellen Übernachtungsplatz. Kutaisi ist, warum auch immer, Sitz der Regierung. Wir verlassen die Hauptstrasse und nehmen einen Feldweg, um im flachen und fast leeren Gebiet einen Platz zu finden. Plötzlich stehen wir auf einer riesigen, verlassenen Piste. Es muss sich um eine Flugzeugpiste handeln. Mitten drauf gefällt`s uns am besten. Beim Morgenkaffee dröhnt tatsächlich ein Flugzeug im Landeanflug über uns hin. Es wählt aber Piste 2, die sich weiter hinten befinden muss.