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Sonntag, 24. Mai 2015

Bratwurst im Schwarzen Garten









Was weiss ich über Berg Karabach? – Jetzt ein bisschen mehr. Zum Beispiel, dass Karabach „Schwarzer Garten“ bedeutet.




Kurz seine jüngste Geschichte: Der schwarze Garten ist das Gebiet zwischen Armenien und Aserbaidschan, mit, ausser Bergen, fruchtbarem Land und fleissigen und sehr offenen und aufgeschlossenen Menschen, viele davon armenischen Ursprungs. Die Sowjets schlugen es auf dem Reissbrett der Sowjetrepublik Aserbaidschan zu. Unter der Herrschaft der Moskauer Briederchen kamen alle gut miteinander aus. (Der „Vorteil“, wenn alle vom gleichen Unterdrücker unterdrückt werden...) Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als sich die Staaten neu bildeten, wollten sich die Aseris nicht mehr daran erinnern, dass Nagorny Karabach kein Teil ihres Landes war. Die Folge war der erbitterte Krieg von Karabach (zusammen mit Armenien) für die Unabhängigkeit in den 90-er Jahren, der mit einem Sieg endete. Seither ist Nagorny Karabach ein eigener Staat, der aber von keinem andern Staat anerkannt wird, und der umgeben von aserischem Gebiet, das man unter Kontrolle hat, eine Enklave bildet, und der durch eine gut ausgebaute Strasse mit Armenien verbunden ist.
Nachdem ich mich schon eine Weile im spürbar ärmeren Südosten von Armenien befinde, hatte ich (ausser keiner Vorstellung) die Vorstellung, dass sich Berg Karabach wohl noch auf einer noch tieferen Stufe befinde. Irrtum! Und Überraschung. Irrtümer und Überraschungen sind das Salz der Reisen in unbekannte Gegenden.
Die Strasse nach Karabach ist eine der besten, die ich bisher vorgefunden habe. Wie könnte es anders sein im Kaukasus – sie führt kurvenreich auf- und abwärts, bis man an die Grenze kommt. Die Kontrolle (auch: wie könnte es anders sein?) ist locker und freundlich. Man gibt mir ein kleines Zettelchen mit der Adresse des Auswärtigen Amtes in Stepanakert, der Hauptstadt, wo ich mich für das Visum melden müsse. Mit einem „Good luck!“ werde ich verabschiedet.




Nach weiteren Kurven durch weitere Felsen und steil abfallende Wiesenhänge erreiche ich Stepanakert. Wo bin ich da? Alles ist gepflegt, Gehsteige, neue Häuser, der Hauptplatz gross, neu, modern, geschmückt mit Grünzeug und Blumen und schönen Laternen, allerdings alles etwas steril wirkend. Vor dem teuren Hotel Yerevan steht ein Rotkreuz-Fahrzeug mit Genfer Nummern. Ich frage die (wie könnte es anders sein?) sehr auskunftsbereiten und sehr gut Englisch sprechenden Reception-girls, wo denn das richtige Zentrum sei, wo die Läden und Kneipen und Stände und vor allem die Menschen seien. Das sei eben hier... Ich lasse mir einen perfekten Cappucino bringen und beobachte das spärliche Treiben, während mir eine Feststellung und eine Frage durch den Kopf gehen: 1. Hier ist es wie in der Schweiz... und 2. Woher kommt das Geld für diesen eindrücklichen Wiederaufbau? Auch als ich durch die Strassen gehe, sehe ich fast nur neue Häuser. Die Schulanlage mit Sportplatz und allem ist nicht nur neu, sondern auch baulich geschmackvoll ausgeführt. Die breite Strasse zur Schule wird zu Schulbeginn von einem Polizeifahrzeug blockiert, damit die sauber angezogenen Kinder sicher sind. An den gelben Fussgängerstreifen der grösseren Strassen steht ein Polizist und schaut, dass wirklich alle Autos für die Fussgänger anhalten. Ich betrete einen Laden für Werkzeug, Sanitär- und Elektrobereich. Es gibt alles, zum Beispiel fünf verschiedene Modelle von Stromgeneratoren oder drei Grössen von soliden Wasserkanistern. Nur eben, wenn alles vom Strassenbild bis zu den Kleidern der Menschen sauber und gepflegt ist, fehlt dafür die Lebendigkeit. Einen zweiten Tag Cappucino trinken in Stepanakert erübrigt sich.






Dafür zieht es mich übers Land, Richtung aserisches Grenzgebiet, zu dem der Zutritt verboten ist. Zuerst noch aufs Auswärtige Amt wegen des Visums. Der zuständige Beamte ist auf sehr distinguierte Art sehr nett, mehr als freundlich. Er erklärt, wohin zu gehen sich lohne, und dass das Grenzgebiet zu Aserbaidschan aus Sicherheitgründen gesperrt sei. Bis zum Checkpoint sei es kein Problem, und wenn ich zurückkomme, solle ich doch nochmals bei ihm vorbeischauen, er habe sicher Zeit für einen Kaffee.



An der Checkpoint-Kreuzung steht ein Häufchen Soldaten, die Strasse ist mit einem dünnen Viehhütedraht gesperrt. Zwei alte Lastwagen und ein paar alte Ladas und Sowjetbüchsen warten auf die freie Durchfahrt. Sobald nicht mehr geschossen werde („Fire!“), könnten wir passieren.  „Fire?“ – „Yes, training.“ Mich interessiert aber die andere Strasse, die gegen Osten abzweigt, die zu der ehemaligen Stadt Agdam führt, die durch den Krieg völlig zerstört worden ist und über die kein Viehhütedraht gespannt ist. „Njet“, sagt der Boss, nur die Armee habe dort Zutritt, „dangerous“. Ich bohre naiv weiter. Dangerous kann es nicht sein, spüre ich heraus, aber halt nicht gerade ein touristisches Vorzeigeobjekt. Das „Njet“ wandelt sich langsam in ein schulterzuckendes „Na dann halt“. Und schliesslich war der Wunsch der Zöllner beim Grenzübertritt ausdrücklich „Good luck!“.





Über eine völlig kapputte Srasse fahre ich durch ein verlassenes Nicht-Gebiet, in welchem verstreut in Gras und Büsche eingewachsene Ruinen ehemaliger Häuser stehen. Als sich die Strasse in verschiedene Richtungen gabelt und die Überreste von Häusern dichter werden, weiss ich, dass ich in Agdam angekommen bin. Die Natur hat alles zurückerobert. Ein Labyrinth von Zerstörtem und meterhohen Büschen und Gras. Das einzige, das der Gegner hat stehen lassen, ist die Moschee mit ihren zwei Türmen. Ein Hund zeigt sich, und die Vögel pfeifen in den Wonnemonat Mai hinein. Sonst niemand und nichts. Irgendwo steht eine notdürftig gebaute Hütte, davor der mir bekannte Zaun aus Motorhauben alter Autos. Ein junger Mann steht dahinter und schaut. Ich werde zum Tee eingeladen. Ein altes Eisengestellbett, ein altes Sofa, ein irgendwie geflickter Tisch, drei Stühle mit verrostetem Gestell, leere Regale an der Wand, ein Gaskocher am Boden und ein Heiligenbild im Türrahmen. Er lebt hier mit seinen Eltern. Erst nach dem Krieg seien sie hierher gekommen. Warum nicht? Tomaten, Zwiebeln, Früchte, Käse von den zwei Kühen, das gingen sie mit dem Lada in andern Ortschaften verkaufen. Und den selber gebrannten Vodka trinken und loben sie selber. Oder eben: Wann weiss ja nie, falls Gäste kommen... Der Vater kauert derweilen draussen vor den Motorhauben und wartet wie im Wildwest-Film auf den verspäteten Zug oder auf Old Shatterhand.








„Henry, bitte verzeih mir, dass ich dir dies nicht erzählt habe. Ich getraute mich nicht, weil du dich so gut um mich gekümmert hast und deinen Job mehr als gut machst.“ Henry ist der Visum-Verantwortliche von Stepanakert. Ein junger Mann, für den man das Attribut „smart“ erfunden hat. Gegen Abend gehen wir zusammen ins Hotel Europa, ein rund geschwungener Glasbau, einen Kaffee trinken. Er erzählt, dass er als Minderjähriger in einem Behindertenheim Gratisarbeit geleistet habe und dass er dann durch die Vermittlung von dessen Besitzerin, einer blaublütigen Engländerin, nach England gelangt sei, wo er nicht nur Englisch gelernt habe, sondern auch, sich mit Phantasie durchs Leben zu schlagen. Seine Erklärung für den eindrücklichen Wiederaufbau von Stepanakert und des ganzen Kleinstaates ist, dass sie alle offen und bestrebt seien, zusammen etwas erreichen können. Das ziehe dann Investoren und den Tourismus an. „You can have confidence in Nagorny Karabach.“ Ob ich als Europäer dieses oder jenes Produkt kenne? – Es wird hier in Stepanakert hergestellt.


Ich möchte aufbrechen, damit ich auf dem Rückweg noch die Kleinstadt Shushi ansehen kann, die als kulturelles Zentrum gilt. Als ich dort eintreffe, merke ich, dass mich ein Wagen eingeholt hat und mir folgt. Als ich anhalte, hält auch er an. Henry steigt aus. Mit einer Plastktüte. Wir hätten doch von dieser Spezialität gesprochen (in Fladenbrot – Lavash – eingewickeltes Grünfutter), und er habe mir doch noch ein solches kaufen wollen, und zudem sei das Museum jetzt sicher geschlossen, aber er kenne die Leute hier. Nach dem Museumsbesuch überreicht er mir noch eine Flasche von edlem Gebranntem und verabschiedet sich smart und herzlich.




„Henry, komm doch mal in die Schweiz, und mache dort einen Gegenbesuch bei der Fremdenpolizei. Sie werden Karabach-Armenisch mit dir reden und dich mit einer Bratwurst verfolgen, und alle Besucher aus dem Kaukasus kriegen von Amts wegen einen Appenzeller Alpenbitter obendrein! – Oh Henry, danke für alles, und verzeih mir den Besuch eurer Geisterstadt.“