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Donnerstag, 21. Mai 2015

Armenisches Nachtleben












Ich bin in Goris, zurück von Kapan. Immer noch am Arsch von Armenien.





Wo es nicht einfach ist, einen Liter Milch zu kaufen, damit man am Morgen einen Milchkaffee machen kann. „Malako, nyet“, bekomme ich in jedem Laden auf Russisch zu hören. 
Ich gehe über den Hauptplatz von Goris, ein Parkplatz, ein Gerichtsgebäude auf der linken und eine Bank auf der rechten Seite, beide und alles aus schweren, grauen Steinquadern, ein paar Wiesenbeete zwischen den angelegten Fusswegen, eine Art sowjetischer Triumphbogen erinnert an etwas, in kleinen Kanälen wird Wasser durch den Platz geführt, ist es der gebändigte Dorfbach, oder zum Wäsche waschen, wie ich eine Frau beobachte, oder die Kanalisation oder alles in einem? Läden hat es genug, nur haben alle das gleiche Angebot: Gemüse, Früchte, Alkohol, Süsswaren, Konserven, Zigaretten oder chinesisch-türkisch-moderne Kleider und Schuhe oder Plastik-Spielzeug, Plastik-Kübel und Plastik-Geräte in allen Variationen (aber keinen brauchbaren Kanister für mich), und dann natürlich die Telephon-Läden (Orange mit einem grossen „Have Fun“-Plakat), jedes Bubi hat auch hier sein Handy. Um acht Uhr schliesst alles, die Strassen leeren sich, nur noch junge Männer lungern in Gruppen herum. Ausnahme ist das modernste Restaurant, mit einem grossen und guten Angebot und mit echtem italienischem Espresso und Cappucino. Es gehöre einem der Stadtkönige, wie ich später von einem kultivierten und gebildeten arbeitslosen Mann erfahre, der aber, weil er mir noch mehr erzählt über den Filz der Herrschenden, auf keinen Fall näher beschrieben oder genannt werden möchte.
Ich erwähne zwei der harmloseren Beispiele, die auch für das ganze Land gelten: Das Wahlrecht wird so „vollstreckt“, dass man den Wahlzettel unter den Augen von Beobachtern oder unter Videokameras ausfüllen muss. Die Konsequenzen folgen... Oder: Das Auszählen geht nach Free-Style-Regeln, wer das so nicht mitmacht, wird sachte an die frische Luft geführt. Das wirklich krasse Beispiel betrifft einen Kandidaten der Opposition, der gute Aussichten auf einen Sieg gegen den bisherigen Apparatschik-Vertreter hatte, und der in letzter Minute vom Staatspräsidenten himself ein Telephon mit der „Empfehlung“ erhielt, seine Kandidatur (doch wohl besser für ihn) zurückzuziehen.
Ja, in dieses Restaurant gehe ich manchmal, denn eben nur hier gibt`s guten Kaffee und Internet. Hier lerne ich zwei junge Sloweninnen kennen, die mit Autostopp über den Balkan, die Türkei und Georgien bis ans Ende Armeniens gereist sind. Bald kommt noch ein Low-budget-Franzose dazu, und da hat man sich schon einiges zu erzählen. Ich denke, Tiefer-Gehendes und Interessanteres, als wenn man sich an einem Holiday-beach-fun-place trifft. Das meine ich nicht im überheblichen Sinn, sondern bezüglich der Wirkung, welche die verschiedensten, aufwühlenden, überraschenden und vom einfachen Leben, Glück und Unglück zeugenden Eindrücke auf einen machen. (Manchmal brauche ich deswegen eine Pause, so wie heute, wo ich das Rolling Home den ganzen Tag höchstens zum Brot holen verlasse, wo ich das Surren im Schädel nach den letzten Erlebnissen mehr spüre als das Brummen in Folge des Cognac-Konsums – gestern habe ich mir schon eine Erlebnis-Pause verschrieben und die Weiterreise nach Berg Karabach aufgeschoben, nur bin ich dann eben auf dem Weg zum Cappucino den erwähnten Leuten begegnet.)

Die zwei Tramperinnen, die sich sonst von Brot und Gurken ernähren, anerboten sich, im Wohnwagen zu kochen. Das klingt einfacher als es ist: Der Wohnwagen steht hinter dem Sowjet-Hauptplatz vor dem Polizeigebäude. Und die Polizisten nehmen ihren Auftrag als Beschützer, Freunde und Helfer mehr als wahr. Den Generator anwerfen oder Wasser holen, nein, wir machen das. Ich kann mich nicht durchsetzen, kriege ein Handy ans Ohr gedrückt, die Tochter eines Polizisten erklärt mir in gutem Englisch, ihr Papi wolle noch mehr Wasserkanister schleppen... (Inzwischen habe ich ein ordentliches Verzeichnis von Polizisten-Telephonnummern des ganzen Landes beisammen – und von deren Töchtern...) Als sich die Lage endlich beruhigt, bleibt einer übrig, ein Ziviler, der sich zu den slowenischen Köchinnen in den Wohnwagen geschlichen hat, ein junger und smarter, und der hat offensichtlich noch anderes vor: Er möchte uns (mich halt auch) in ein Lokal einladen. Zum In-place von dead Goris. Das „Vielleicht später“ nimmt er ernst und steht um halb elf wieder da.

Wir landen im Untergrund von Goris. Beim grössten Laden, den sie Supermarkt nennen, führt eine Treppe in den Keller. In eine andere Welt. Neu ausgebaut, ein grosser Gang, WC-Anlagen und der Hauptraum, auch gross, mit einer Bühne, auf der eine Musikanlage und grosse Lautsprecher stehen und mit vielen (neuen) Holztischen und Holzbänken. Natürlich farbige und bewegte Lichter und Lichtstrahlen und an den Wänden Bilder und Skulpturen der Heimat Armenien, was alles zusammen die wunderbare Mischung aus Rustikalität und coolem Nightclub ergibt. Nur: Es ist niemand da. Drei Männer und eine halb-sexy angezogene Frau hängen am Eingang herum und sagen „Hello“ und „Welcome“. Was wir trinken möchten? Champagner? Wir hätten auch auf unsere bescheidene Bestellung verzichten können, denn gebracht wurde alles und reichlich: Kaffee, Tee, eine Flasche Cognac, eine Flasche Champagner, eine Schale mit aufgeschnittenen Früchten und eine Tafel Schokolade („Alpen Gold“) mit Messer und Gabel. Negative thinking: Jetzt werden wir abgefüllt und ausgenommen. Für solche Gedanken bleibt keine Zeit, denn die Musikanlage wird angestellt. Stufe neun von zehn. Einer singt dazu ins Mikrophon. Stimmung! Es tauchen noch ein paar junge Männer auf (angesagt ist übrigens bei den armenischen Männern, die Haare gerade nach vorne in die Stirn zu kämmen), und man beginnt zu tanzen. Genauer: Alle ausser dem älteren Herrn aus der Schweiz, der immer mal wieder und immer mehr genüsslich an einem Cognac nippt. Während der Tanzpausen nippen auch die Armenier kräftig mit, so dass bald weitere Flaschen geholt werden müssen. Wer bezahlt das am Schluss? Wir nicht, kommt nicht in Frage, wir seien eingeladen. Und wir seien auch eingeladen für den nächsten Tag, wenn Nunes Geburtstag gefeiert werde.