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Montag, 4. Mai 2015

Armenische Künste









Sieht so der Eingang in ein gastfreundliches Land aus? – Antwort: JA!





Zuerst werde ich allerdings von dieser Strasse begrüsst. Es ist die Nowhere-land-Strasse, wie es sie in verschiedenen Ausführungen gibt, die die Grenzposten von zwei Ländern verbinden. (Das Rolling Sweet Home hat jetzt eine andere Farbe – es ist braun.) Die armenische Zollkontrolle war just great. Locker, freundlich, aufmerksam und hilfsbereit. Ich liebe sie inzwischen, diese Grenzübergänge nach Bulgarien, Syrien, Serbien, Türkien, Marokko. Diese morbiden Zweckgebäude, meistens das Hauptgebäude und rundherum Baracken, Container und Buden, zwischen denen man, nur mit einer unklaren Handbewegung angewiesen, für Stempel und Gebühren und unleserliche Kopie-von Kopie-von Kopie-Formulare hin und her laufen darf. Die einen spielen dabei das obligate Machtspielchen und zeigen eine Art aggressives Desinteresse, andere sind wie Menschen, die einen Job zufriedenstellend ausführen möchten. Dies ist nicht in erster Linie von den einzelnen Personen abhängig, sondern vom Land. Interessant, isn`t it! Jedes Büro, also jedes Stempel-Loch, wäre meist ein Fressen für eine „Wir verschönern Ihr Heim“-Aktion. Schon allein die Stühle: Was zerbrochen oder aufgeschlitzt ist, schafft es nicht in ein westliches Brockenhaus... Da ist Chiasso ein müder Furz dagegen. Die Armenier haben nicht mal ein Dach auf ihrem Berg-Übergang. Das wichtigste Büro befindet sich im Keller eines Steinhauses, auf einer Treppe von aussen her zugänglich. Der zuständige junge Pullover-Mann spricht einigermassen Englisch und erklärt mir genau, was er alles machen müsse, und anschliessend begleite er mich zu den andern offices, dann sei es erledigt. Die etwa 70 Euro, die ich bezahlen muss, sind offiziell. Nix Be-Scheiss-Geld wie in... Lustig ist nur, dass darin eine Strassengebühr enthalten ist, und du fährst anschliessend über diese Löcher- Dreck- und Schotterpiste!

Also, „Welcome to Armenia!“ haben sie gesagt. Auf den ersten Kilometern muss ich anhalten. Was fällt auf? – Die Zäune vor den Häusern.  Man kann doch den nutzlosen Metallschrott wenigstens nutzvoll hinstellen. Da mich solche Anblicke faszinieren und sie ihre besondere Ästhetik haben, und da ich ja ein grosses Problem (zum Glück kein belastendes) mit der modernen Kunst habe, frage ich mich oft in solchen Momenten: Und wenn ich jetzt zum Beispiel diesen Schrott-Zaun mit finanzieller Hilfe des Migros-Kulturprozentes in die Schweiz transportieren und ihn in einer Kunsthalle auf den Punkt wieder genauso aufstellen liesse und diese Installation (jawoll, „Installation“!) an der weissen, blanken Wand mit dem Schildchen „Armenian soul“ betiteln würde, und am Eingang würde ein Prospektli aufliegen, in welchem ein Sachverständiger (oder „Sachverständiger“?) von der Reise, nein, vom zweimonatigen Aufenthalt des C.L. in Armenien berichten und die Bedeutung des interkulturellen Austausches (nächstens käme eine armenische Tuffstein-Skulpturerin nach Zürich-Örlikon, sie „bearbeite“ den traditionellen Stein mit ungesponnener Schafschur) betonen würde, - wäre ich dann ein richtiger Künstler? Oder hätte ich schon viel früher die interessierten Kreise mit aufsässigen Einladungen an meine Neocolor-Vernissagen lotsen sollen? Oder soll es vorläfig bei der Photo-„Kunst“ bleiben? (Der „Künstler – welch komisches Wort, wenn man es dreimal nacheinander ausspricht! – „arbeitet“ mit einer einfachen Digi-Pocket-Kamera und verpasst den Bildern mit dem einfachsten Compi-Programm einen kitschigen Tatsch... oder so.) Nicht-„Künstler“ aller Länder vereinigt euch!



Nach 50km komme ich nach Gjumri. Auf dem zentralen Stadtplatz finde ich meine Bleibe. Der Hauptplatz einer Stadt in den ehemaligen Sowjet-Ländern heisst meistens „Platz der Freiheit“ oder „Platz der Unabhängigkeit“. Der zweitgrösste Platz hat oft seinen Namen aus der Sowjet-Zeit behalten dürfen: „Platz des Friedens“. Der gebeutelte Wladimir P. aus Moskau ist übrigens auch noch ein bisschen anwesend hier. Ein cooler Armenier trägt unter seiner Lederjacke ein T-shirt mit dessen Konterfei und zeigt es mir mit einem ebenso coolen Lächeln.

Die Polizisten sind ein Knüller. Natürlich könne ich hier stehen bleiben, solange ich wolle. Kein Problem, dass ich etwa sechs Parkfelder besetze. Alles in nahezu perfektem Englisch. Heute kommen sie wieder vorbei und fragen, ob alles gut sei. Wir trinken einen italienischen Espresso im Wohnwagen.




In Reiseführern findet man den Standard-Satz „Die Menschen sind sehr freundlich und hilfsbereit“. Stimmt! Und einmal mehr mache ich die Erfahrung, dass dies auf die Frauen mehr zutrifft als auf die Männer. „Komm, wir führen dich dorthin“, haben zwei hochhackige Schöne heute zu mir gesagt, „es ist klar, dass wir den Fremden helfen.“ Und Tschüss und „enjoy your time in Armenia!“

Gjumri ist die zweitgrösste Stadt von Armenien. Sie ist aber nicht gross und hat wenig zu bieten. Ein paar moderne Lokale und Läden hat man ihr verpasst, doch bereits in den Seitenstrassen sieht man mehr das Vor-sich-hin-Zerfallen.








Etwas allerdings, so habe ich herausgefunden, hat Gjumri zu bieten: den Fussballclub Skirak Gjumri, der momentan an zweiter Stelle der armenischen Liga steht. Fast alle der andern Clubs sind von Yerevan. Am Sonntag sei ein Spiel. Schauen mer mal.

Da dieses Spiel erst in einigen Tagen stattfindet, beschliesse ich, den Wohnwagen auf dem von meinen Polizisten-Freunden bewachten Platz stehen zu lassen und nach Yerevan zu fahren. Auf der gut 100km langen Strasse, die die zwei grössten Städte verbindet und stolz M1 heisst, lässt es sich, wenn man die Flicke und Löcher gut voraussieht, mit 80 bis 100 dahinbrettern. Manchmal gibt es Sicherheitslinien und unrealistische Tempobeschränkungen auf 50km. Wer hält sich daran? Jedenfalls schnappt mich nach einem Überholmanöver an einer solchen Stelle ein Streifenwagen der Polizei. Der Beamte macht mich freundlich auf meine Verfehlung aufmerksam und verabschiedet sich ebenso freundlich wieder. Das scheint die Regel zu sein: Die oft präsenten Polizeiwagen stoppen via Bordlautsprecher einen Verkehrsteilnehmer und lassen ihn nach einer verkehrserzieherischen Erklärung ohne Busse (und ohne Schmiergeld) weiter fahren. Tatsächlich: Polizisten sind Freunde. Die Feststellungen, wie die Polizei in den verschiedenen Ländern „funktioniert“, beschäftigt mich immer wieder und damit die Frage, ob ein offenes, entspanntes Volk, herrsche nun im Land Armut und Korruption oder nicht, eben auch eine entsprechende Polizei hat. Auf Armenien bezogen stelle ich bisher fest, dass die Leute sehr wenig verdienen, dass keine Arbeitsrechte gelten, dass die Oberschicht den Kuchen unter sich aufteilt, dass aber die Mentalität der Menschen sehr offen und weltoffen ist, dass viele eine Fremdsprache sprechen und eben, dass auch die Polizisten diese Lockerheit haben und keine schmutzigen Spiele spielen.

In Yerevan gibt es viel Grün. Hohe Bäume entlang den Strassen und überall ruhige Parkanlagen. Man liebt Springbrunnen. Schöne Orte für den Morgenkaffee. So lerne ich den Kellner Levon kennen. Er war mal einige Zeit in Kalkutta, um dort Englisch zu lernen. Auf ihn trifft das Prädikat „ein herzensguter Mensch“ zu. Heute dauert seine Schicht von morgens 8 Uhr bis Mitternacht. Ohne Pause dazwischen! Sein Verdienst ist das Trinkgeld. Es sei normal, dass man keinen echten Lohn erhalte. Wenn man einen solchen einfordern würde, sei man am nächsten Tag den Job los. Er erzählt auch von den Reichen und Verfilzten. Einmal sei er bei Wahlen als Stimmenzähler aufgeboten gewesen, und er habe miterlebt, wie dabei beschissen werde. Nach Feierabend, also nach Mitternacht, treffen wir uns. Er bringt noch seinen besten Freund mit. Die zwei zeigen mir Yerevan by night. Vieles ist 24 Stunden geöffnet. Man kann über alles reden und lachen mit ihnen. Der armenische Cognac schmeckt, und um 5 Uhr gehen wir in ein Restaurant für armenische Spezialitäten essen. Um 7 Uhr fragen sie mich in der Morgensonne, ob ich really satisfied sei. – Yes, I am.




Das Zentrum Armeniens ist eindeutig Yerevan. Alles andere sind arme Kleinstädte und Dörfer. Yerevan ist Regierung und Verwaltung, Geschäft, pulsierendes Leben, teure Läden, gute Restaurants, alle Sorten von Bars und aufgeschlossene Leute. Und sechs der acht Fussballclubs. Ein zweites und symbolisches Zentrum heisst Ararat. His majesty Ararat. Er thront für die Armenier gut zu sehen, aber unerreichbar auf türkischem Gebiet. Ich öffne die Vorhänge des Hotelzimmers: Ararat! Ararat heisst auch das Gebiet südlich von Yerevan, Ararat heisst einer der Fussballclubs, und Ararat heisst auch der vorzügliche Cognac. Ich gehe die alte Cognac-Fabrik besuchen, auch thronend, auf einem Hügel, face to face mit dem Grössten. Auf dem Weg dorthin stehen wie überall Erinnerungstafeln an den Genozid von 1915, der sich vor einigen Tagen zum hundertsten Mal gejährt hat. „1915“ und „I remember and demand“ steht auf Armenisch und auf Englisch darauf. Museen und verschiedene Ausstellungen machen auch darauf aufmerksam.





Auf eine andere Welt treffe ich, als ich das „Wild West“-Kellerlokal betrete. Eine alte Bar, geprägt von den 60-er Jahren aufwärts, mit guter Musik (Janis Joplin, Blues, Rap), mit Bildern von Led Zeppelin und Jimi Hendrix an der Wand. Am Abend findet ein Konzert statt. Die Leute sprechen über Filme, Filmprojekte, Literatur („Hast du das und das von Kafka oder von Coelho gelesen?“), Musik und wie und ob man davon leben könnte. 


Nach drei Tagen fahre ich zurück nach Gjumri. Termin: Sonntag, 14.40, Match Zweiter gegen den Ersten. Unterwegs gibt`s Erdbeeren vom Strassenstand und den Bergen zu immer mehr Regen.