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Dienstag, 28. April 2015

Georgische Lichtlein brennen







Weit im Osten hinter der Türkei, aber noch vor Indien, liegt Adscharien. Und genau hier leben die Adscharen. In der „Autonomen Republik Adscharien“.





Mein erster Eindruck: ein imposantes Rotlichtmilieu. 
Um mich einem allfälligen Chaos von drängelnden Türken und autistischen Grenzern möglichst nicht auszuliefern, überquere ich die georgische Grenze in der Nacht. Es kam gut. Die Lastzüge dümmelten in einem kilometerlangen Schlaf, und Privatverkehr gab es keinen. Die Grenzkontrolle der Georgier war eine „Welcome-to-Georgia“-Party. Unkompliziert, freundlich, locker.   

Adscharien ist das Gebiet im südwestlichen Georgien. Es hat sich im Zuge des Neuaufbaus der Staaten im Kaukasus als autonom erklärt, blieb aber Teil von Georgien. Darum: „Welcome to Georgia!“ (Und noch viel mehr auf Englisch. Nicht wie in der Türkei – ich rede nicht von Istanbul - , wo auch Studenten nicht mehr als ein „You like Turkey?“ hinkriegen.) 
Von der Grenze nach Batumi sind es nur knapp 20 Kilometer. Und diese sind garniert mit roten und auch andersfarbigen Lichtern. Jeder kleine Laden ist mit einer Lichtschlange umrahmt und hat 24 Stunden geöffnet. Als ich ins nächtlich leere Batumi hineinfahre, fallen die vielen farbig beleuchteten, alten und neuen Gebäude auf. Und die Palmen (auch beleuchtet). Und die Strassenwischer (durch ihre reflektierende Arbeitskleidung beleuchtbar. Übrigens, politisch korrekt: Alles ist sehr sauber und gepflegt). 
Es ist vier Uhr nachts. Ich stelle das Rolling sweet home ab und muss mich erst mal umschauen. Und drauflos fotografieren. Crazy! 
Dann gibt`s einen 24-Stunden-Kaffee. Beso und Nea winken mich an ihren Tisch. Nea hat Nachtschicht, und Beso kam sie vor seiner Arbeit besuchen. (Madloba for the warm welcome and for the first Georgian beer at six in the morning!) 
Übrigens, politisch vage korrekt: Man kann normal mit den Menschen reden. Vor allem mit jungen Menschen, ob Kapuzen-Pulloveris oder Frauen, die die Kleider nicht tragen um sich möglichst unsichtbar zu machen.
Ich bin in zwei, drei nächtlichen Stunden keine 20 km weiter in einer andern Welt angekommen. Und vermisse das traditionell-patriarchalisch-religiös Geprägte und Gebremste nicht. Das Rolling sweet home steht, wo es stehen soll – an guter Lage. 








Aber eigentlich bin ich ja hier nur auf kurzer Durchreise auf dem Weg nach Armenien. Dazu muss ich durch Georgien, denn mein vorheriges Gastland hat seine Grenzen zu Armenien geschlossen, weil man ihm stur vorwirft, es habe etwas zu tun mit den mysteriösen Todesfällen von Hunderttausenden von Armeniern vor 100 Jahren. Wer einen stolzen Schnauz trägt, schluckt das nicht einfach so und sagt dann noch: „Sorry, dumm gelaufen.“ 


Sie machen es mir nicht leicht, die Adscharen. In fünf Tagen bin ich 50km weit gekommen auf dem kurz geplanten Transfer nach Armenien. Ich bin jetzt etwas nördlicher an der Schwarzmeerküste in Kobuleti. Ich muss anhalten, stehen bleiben, mich umschauen. Wie ein Kind auf dem Schulweg. Warum gibt es hier so viele Palmen und Bambusse? Sind das Ruinen aus der Sowjet-Zeit? Sind all diese neu-verlotterten Holiday-Fun-Baracken entlang der Küste in den Sommermonaten wirklich voller Touristen? Woher kommen denn Touristen? Was kostet das Benzin? Kann man sich irgendwo frei hinstellen über die Nacht? Warum hat es hier so viele Mercedes (man könnte sich ja auch andere ausgemusterte Marken in Germany besorgen)? Warum sieht man relativ viele rechtsgesteuerte Autos? Wie kann man dazu fähig sein (oder werden) diese georgische Schnörkelschrift zu lesen? Wie sagt man „Guten Tag“ auf georgisch? – Ja, ich bin am Lernen. „Ja“ und „Nein“ und „Bier“ und „Danke“. „Kbilis sachichkni“ heisst Zahnstocher. Sie sind hilfreich und schreiben einem auf Wunsch ein Wort mit lateinischen Buchstaben auf einen Zettel. Na also: „Ich hätte gerne ein Bier und einen Zahnstocher – vielen Dank.“ Oder: „Sie arbeiten tagsüber als Gärtner in einer Wahnsinns-Villa eines stinkreichen Ukrainers, der Ihnen 20 Lari (8 Franken) im Tag bezahlt, über die ganze Nacht sind Sie in Ihrem kleinen Laden, in dem fast nichts läuft, und Sie schlafen dann manchmal ein bisschen auf dem Bett in der Nische hinter dem Ladentisch, oder Sie kontrollieren in Ihrem Heftchen die in die Kolonnen hineingekritzelten Einnahmen des Tages, nebenbei bauen Sie an einem Hotel, um später in den drei Sommermonaten an den auch knapp bemittelten einheimischen, ukrainischen und russischen Urlaubern etwas zu verdienen, und zu Hause haben Sie neben Frau und Kindern noch ein paar Kühe... Jetzt habe ich vergessen, was ich Sie fragen wollte... ach ja, entschuldigen Sie die Frage, wie fühlt man sich dabei? Und warum sind Sie so freundlich zu mir und so hilfsbereit, und warum nehmen Sie diesen Lari nicht an, wenn ich Ihnen 4 Lari zahlen muss und Ihnen 5 geben möchte?“ – Eben, so kleine und einfache Konversationen kann ich bereits führen in dieser verschnörkelt aussehenden, aber ziemlich rauh klingenden Sprache. 
In Kobuleti, einem Nicht-Ort sowjetisch-asiatisch-südlich-bazarischer Prägung, daher interessant und real, finden sich, wenn man sucht, eine Pizzeria, ein grosses, rustikales Restaurant mit zwei Gästen und eines, das mit „Kapuchino“ angeschrieben ist. „Haben Sie wirklich Cappuchino?“ – „Sicher!“ – Nein, es gibt doch keinen. Nur Néscafé. Ohne Milch. Aber im Laden drei Häuser weiter könnte man Milch kaufen. 
Etwas aufbauen und es dann doch nur halbwegs ausführen, das sieht man augenfällig an vielen Häusern, und es zeigt sich grundsätzlich bei viel anderem. Sobald man Österreich in südöstlicher Richtung verlässt. – Nein, kein Urteil von mir. Ich komme aus einer andern Welt, und ich bin froh – dies ist ein Urteil – dass ich viel Über-funktionierendes und Über-organisiertes hinter mir lassen kann. Ich sehe, ich schaue, ich nehme wahr, ich stelle fest. Dies ist bereichernd, und es führt manchmal zu Urteilen, und zwar über mein Land. Zu guten und zu schlechten. 









Papi baut ein Hotel:







Es passt zu den Georgiern, eine Schrift zu haben, die aussieht wie Musik. Scheinbar müssen sich selber ein bisschen helfen diese Ornamente zu verstehen. So hat der Coiffeur noch eine Schere und einen Kamm dazwischen gesetzt, damit die Kunden wirklich kommen. In georgischer Schrift sieht dieser Abschnitt so aus: 
ის იყენებს, რათა ქართველებს რომ ჰგავს მუსიკა. როგორც ჩანს, თავად პატარა დახმარება მესმის ამ ორნამენტებით. ასე რომ, საპარიკმახერო აქვს წყვილი მაკრატელი და სავარცხელი განთავსებული შორის, ისე, რომ მომხმარებელს ნამდვილად მოდის.



Es ist doch nicht so schwierig, wie es auf den ersten Blick aussieht.Man muss halt mit ganz Einfachem beginnen. 
Zum Beispiel „Gute Nacht!“ wäre კარგი ღამე!

როდის არის შემდეგი ხელფასების მომატებას? heisst: Wann kommt die nächste Lohnerhöhung?

სად არის ჩვენი პოლარული დათვი? ist jetzt einfach, denn პოლარული დათვი heisst Eisbär. Also: Wo ist unser Eisbär? 

Weiter nach Armenien. Zumindest in Richtung Armenien. Was heisst, nicht in Richtung Armenien. Denn man muss einen grossen Umweg fahren, wenn man nicht die direktere Route über die Berge nimmt. Und von dieser wurde mir wegen der sehr schlechten Strasse abgeraten. Der Weg führt zuerst nordöstlich über Kutaisi nach Khashuri, dann südlich – es wird bergig – nach Akhaltsikhe. Von hier an kommt man immer mehr in die Berge, es wird verlassener und sehr ärmlich. Die Strassen sind sehr schlecht, wegen der vielen Löcher ist es klar, dass man freestyle fährt, man wählt einfach die beste Schlangenlinie um die tiefsten Löcher herum, allenfalls auch ganz links. Oft im Schritttempo. Dann beginnt es auch noch zu regnen, es wird kalt, und der Fluss treibt mir seine braune Flut entgegen. Eine Eisenbahnbrücke lässt mich anhalten. (Ein Zuckerstengel heisst so, weil er aus Zucker gemacht ist. Eine Eisenbahnbrücke heisst so, weil sie aus Eisenbahn gemacht ist. – Reisen bildet.) Nach so vielem Zerfallenem – manchmal meine ich, es sei Krieg und jetzt grad eine Pause – bin ich wenig erstaunt, dass man diese Brücke nicht mehr betreten kann. Es fehlt ein Stück Boden.





Beim Eindunkeln erreiche ich Akhalkalaki. Es regnet stark und die Strassen stehen meist unter Wasser. Ein malerisches Bergstädtchen sieht anders aus. Deutlich weniger Lichtlein als in great Batumi. End of the world. Aber es hat Menschen da, und die tun so als würden sie hier leben. An einer Tankstelle frage ich, ob ich hier über Nacht bleiben kann. Einer der Tankstellen-Jungs kann Englisch. Er fragt mich nach dem 27. April. – 27. April? – „Yes, 100 years genozid“, und er deutet auf den nahen Berg, wo gross die Zahl 100 leuchtet. Dieses Gebiet hier sei eigentlich armenisch. „We have Armenian names.“ Ich staune: Diese Geschichte im Rücken, dieses arme Land, dieser fast zerfallene, schmutzige Ort auf über 2000 Metern, dieses Nichts-Haben – klar, wenn die Sonne scheint sieht es ein bisschen anders aus – wie kann man da guter Laune zusammen stehen und das tun, was der Tag verlangt und hergibt? Am nächsten Tag sehe ich mich etwas um.





Dann folgen die letzten 50km bis zur armenischen Grenze. Auf vielen Schritttempo-Strassenabschnitten, zum Teil neben der Strasse, weil es sich im Dreck besser fährt. Von den Häusern der kleinen Orte ist schwer zu sagen, welches unbewohnte Ruinen sind und wo noch gewohnt wird. Fast alles ist aus dunklem Stein, auch der Dreck rundherum, in dem in verschiedenen Farben alte Traktoren, Maschinen und Gerätschaften herumstehen, ist fast schwarz, und auf den Dächern der niederen Steinschuppen wachsen richtige Wiesen. Die Menschen sehen aus wie Menschen, die hier zu Hause sind. Sie stehen herum und schauen, kommen aus einem kleinen Laden vom Brot holen, treiben Kühe über die letzten Schneeflecken, führen ihr Enkelkind an der Hand, schrauben um den alten Lada oder Opel herum, tun halt etwas oder auch nichts. In der Ferne über den schneebedeckten Bergen reisst die Wolkendecke auf und himmelblauer Himmel kommt zum Vorschein. Ich esse ein gelbes und ein rotes Sugus und konzentriere mich auf die Löcher. 






Auch der Zoll ist eine grosse Dreck- und Pfützenhalle. Zuoberst auf den Metallstreben hocken Vögel und schnarren das Lied von der verpassten Zukunft. Die Zöllner sind freundlich und freuen sich, dass ich bald wieder zurück nach Georgien komme. „Madloba“, danke für eure gute Laune!