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Dienstag, 17. März 2015

Frühlingsknospen







Rumänien ist speziell. – Ein rumänisches Spital ist speziell. – Die psychiatrische Abteilung eines rumänischen Spitals ist eben auch speziell.






Ich halte am Strassenrand an, um ein junges Pärchen nach dem Spital zu fragen. Sie können nicht helfen. Aber ein kleiner Mann springt heran, hängt seinen Kopf ins Autofenster und krächzt etwas Unverständliches. Was ich mitbekomme ist, dass er nach Alkohol stinkt. Ob er mich versteht mit meinem Bühnen-Rumänisch? Ja. Dort sei das Spital. Nur gestikuliert er mit Armen und Kopf in verschiedenste Richtungen. Aber er lässt nicht locker. Er könne mich hinbringen. Ob ich denn zur Oftalmologie oder zur Psihiatrie oder Pneumotologie wolle. Und etwas müsse ich jetzt sofort tun: „Intoarce, intoarce!“, schreit er dauernd und zeigt dabei energisch nach vorne und nach hinten. Und er wolle einsteigen, tut es aber nicht und pustet weitere laute Schnaps-„Intoarces“ fadengerade ins Wageninnere. Inzwischen kapiere ich: Ich soll wenden, dann steige er ein und komme mit. Zack, hier links abzweigen und hier bei der Kirche parkieren. Nein, zuerst wieder „intoarce!“. Dann zu Fuss um die Kirche herum – und wir sind da! Jetzt gilt es aber noch, den Wächter des Eingangshäuschens zu beseitigen. Der ist nämlich irritiert und begreift nicht, wer von uns beiden wen einliefern möchte. Krächzen tut eh nur einer. Ich drücke dem Quasimodo ein paar Lei in die Hand (für Zahnpflege oder was auch immer) und finde tatsächlich im Salon 8 meinen Freund Ionel (Name von der Redaktion geändert – richtig heisst er Andrej).

Der Salon 8 ist etwa  15 Quadratmeter gross und mit drei schmalen Betten, einem Nachttisch und einem Lavabo ausgestattet. Jetzt sei es okay zu dritt, sagt Ionel, vorher hätten sie sich einige Tage ein Bett zu zweit teilen müssen. Mathematik: 80cm : 2 = 40cm.

Durch meine täglichen Besuche werde ich mit immer mehr Patienten bekannt, die zu mir kommen und mir die Hand schütteln. Weil ich ein Fremder bin? Weil ich nett aussehe? Nein – weil ich Zigaretten habe! Der kleine Innenhof ist übersät mit Zigarettenstummeln. Da sitze ich manchmal mit ihnen auf der halbkaputten Bank neben ganzkaputten herumliegenden Schaumstoffmatratzen, und sie erklären mir, wie schön die Schweiz sei. Der mit dem zerschlissenen Pullover schwärmt vom Matterhorn, der andere im Sondermüll-Trainingsanzug wünscht sich einen Bernhardinerhund und der, dessen Pijamahosen in Punkstiefeln stecken, weiss, dass man in Elvetia vier Sprachen spricht: Deutsch, Englisch, Französisch und Italienisch. Einer schlurft immer hinaus und hinein und redet von der Liebe Gottes. Geht ja noch. Aber: Wenn Orthodoxe sich bekreuzigen, ist das schon eine rechte gymnastische Übung. Und sie bekreuzigen sich immer, wenn sie eine Kirche sehen.  Geht ja noch. Aber der Hinaus-und-Hinein-Wanderer sieht jedesmal beim Hinauskommen die Kirche von gegenüber! Wieder einer erklärt mir ein Gesundheitsrezept seines Vaters: Junge Knospen von irgendwelchen Zweigen (20%), Alkohol (40%) und Glyzerin (40%). Bei dessen täglicher Anwendung werde man 10 bis 20 Jahre älter. „Das möchte ich vielleicht gar nicht.“ Er, gewandt wie ein Vertreter: Nein, älter werde man nicht, aber die Lebensqualität erhöhe sich. Und ob ich ihm morgen eine Schachtel Zigaretten mitbringen könne. Winston Classic. (Ohne Knospen).



Das Rolling Sweet Home steht in der Nähe von Pitesti, der Dacia-Renault-Stadt im Süden Rumäniens. Ganz genau auf einem Hügel vor dem Friedhof, mit Blick auf das kleine Dorf Vieros. Und mit Blick auf das Haus der Cosmin-Loredana-Anca-Familie. 


Cosmin tut, was er kann, um seine Familie durchzubringen. Da er jedoch so naiv wie herzlich ist, klebt ihm das Pech an den Fersen. Gestern ist er totmüde nach Hause gekommen. Mit dem Lieferwagen aus Hamburg. Non-stop. Der Chef peitscht ihn per Telefon an. Gegessen habe er nichts unterwegs. Europa sei sehr teuer. Vor allem ohne Geld. Anca steht in der kleinen, überheizten Stube am Fenster und ruft: „Papi kommt! Papi kommt!“  Papi hat Stühle, zwei grosse Sofas und ein aufblasbares Gummiboot mitgebracht. Alles zusammen für 440 Euro. Beziehungsweise gratis. Nur: Die Polizei hat ihn in Österreich angehalten und ihm eine Busse aufgebrummt, weil das Auto überladen war. Sein Chef musste das Geld überweisen, dann durfte er weiter fahren. Cosmins Fazit: Jetzt habe ich halt einen Monat gratis gearbeitet. „Immerhin hast du zwei Sofas. Aber wohin mit ihnen?“ Wenn Anca später mal heirate… Und das Gummiboot? Es gibt keinen Fluss und keinen See in der Nähe… Aber gratis war`s.

„Christoph, gibst du mir ein bisschen Geld? Ich möchte einkaufen gehen und am Abend kochen wir etwas Gutes für dich.“ – In Rumänien darfst du nicht mitteleuropäisch denken. Überhaupt nicht denken. Es kommt, was kommt, es ist, wie es ist, und du tust etwas oder tust es nicht. Rumänien ist wie Roulette, bei dem es nichts zu gewinnen gibt. Wer das nicht versteht, geht nicht ins Casino. Und auch nicht nach Rumänien.

Sicher ist, dass es heute Abend Sarmale gibt, eine Spezialität des Landes. Eine mit einem Kohlblatt umwickelte Fleisch- und Gemüsemasse. Und einen Selbstgebrannten, wenn der Nachbar noch welchen hat.

Und da ist das runzelige Urgrossmütterchen von Anca, das in seinem kleinen Häuschen nur einen kleinen Raum bewohnt, wo es ein Feuerchen machen kann. Es redet vom Schmerzen in Nacken und Füssen und davon, dass es kein Geld habe für den Doktor und von Dumnezeu (Gott), der uns allen helfe.




Als Anca vom Kindergarten zurückkommt, macht sie sich in den besten Kleidern auf ins nächste Dorf zum Doktor.




Anca malt im Kindergarten Malhefte aus. Frei malen könnten die Kinder eben nicht, erklärt mir die Kindergärtnerin, sie hätten keine Phantasie, weil sie zu Hause immer fernsehen. – Also lassen wir`s bleiben. Dafür haben sie einen farbigen Spielplatz. 


    
Gestern waren wir mit Anca zur Kontrolle bei der Augenärztin. Sie empfiehlt eine weitere Operation bei einem weiteren Augenarzt in Bukarest... Wer zahlt`s?